Einführung
In Deutschland leben 10,2 Millionen Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Lernschwierigkeiten, Sinnesbeeinträchtigungen und / oder chronischen Erkrankungen. Das sind etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung, die ihren Alltag im Schul-, Arbeits- und Privatleben in Deutschland gestaltet – auch medial. Die Nutzung von Medien dient – wie bei Menschen ohne Behinderungen – der Unterhaltung, Kommunikation, Organisation und Unterstützung.
„ … noch immer sind Menschen mit Behinderung im deutschen Fernsehen schlichtweg unterrepräsentiert oder finden in der Medienwelt erst gar nicht statt. Das ist immer noch ein großes Problem, da diese Minderheit somit automatisch nicht in den Köpfen der Medienkonsument*innen existiert.“
Artikel „Frau Gehlhaars Monatszyklus – Mai 2017 mit Schmerzen, Hass und Jan Böhmermann“, Blog lauragehlhaar.com
Laura Gehlhaar – ZDF hallo Deutschland
Oktober 2016
Wir leben in einer Mediengesellschaft, in der Bilder und Sprache ständig präsent und machtvoll sind. Medial verbreitete Informationen sind dabei oft nur schwer überprüfbar. Und obwohl wir in einer medialen Gesellschaft leben, ist unser Wissen abseits der eigenen Lebensumstände beziehungsweise derer des familiären und freundschaftlichen Umfeldes nur sehr begrenzt. Das gilt auch für das Kenntnisse zum Leben mit körperlichen Einschränkungen, Lernschwierigkeiten, Sinnesbeeinträchtigungen und / oder chronischen Erkrankungen, über das nicht betroffene Menschen häufig ausschließlich aus den Medien Informationen erhalten.
„Je mehr Kontakt Menschen aus unterschiedlichen Gruppen miteinander haben, desto geringer sind auch die Vorurteile.“
Publikationsreihe FORSCHUNGFRANKFURT – Das Wissensmagazin der Goethe-Universität (Februar 2016)
Unkenntnis und der Mangel an Begegnungen können zu Vorurteile beitragen. Will man Menschen einander näherbringen, müssen sie sich real oder wenigstens medial vielfältig kennenlernen, in der Hoffnung, dass auch mediale Begegnungen für einen Abbau von Berührungsängsten oder Ablehnung sorgen können. Der Inhalt und die Gestaltung medialer Informationen tragen in einem besonderen Maß dazu bei, wie Lebensumstände anderer Menschen wahrgenommen und bewertet werden. Wichtig ist dabei, dass Medien auch von und mit Menschen mit Behinderungen geplant und gestaltet werden. Entsprechend hoch ist die Verantwortung der Medien, Menschen mit Behinderungen zu Wort kommen zu lassen und sowohl die verwendete Sprache als auch die Bilder, die Verwendung finden, kritisch zu hinterfragen. Auch sind (Nicht-)Auslassungen bei der Darstellung entscheidend.
Das durch Medien vermittelte Wissen über die Lebensumstände anderer Menschen ist wichtig: In den Medien Rollenvorbilder zu finden und eine Stimme zu haben, ist für alle Nutzerinnen und Nutzer von Relevanz. Die eigenen Bedürfnisse und Probleme in medialen Formaten wiederzufinden und Anregungen für das eigene Leben zu bekommen, zählen zu den zentralen Momenten der Mediennutzung: Menschen wollen sich im Gezeigten wiedererkennen, selbst in den Medien stattfinden und zu Wort kommen.
Die Vielfalt des Alltags von Menschen mit Behinderungen jedoch findet kaum Platz in den Medien. Ihre Darstellung schwankt häufig zwischen hilfsbedürftig und leidend oder aber als außerordentlich leistungsstark, beispielsweise im Sport. Der normale Alltag in Familie und Beruf findet sich kaum. Im vorliegenden „Im Blickpunkt: Das Bild von Menschen mit Behinderungen in den Medien“ soll es deshalb um die Fragen einer tatsächlich angemessenen Darstellung gehen – und damit verbunden um die Mitwirkung von Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Lernschwierigkeiten, Sinnesbeeinträchtigungen und / oder chronischen Erkrankungen.
Studienergebnisse zum Einstieg
Die Studie „Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen“ hat 2016 erstmals deutschlandweit aussagekräftige Daten zu Mediennutzung, Nutzungsmotiven und Nutzungserwartungen von Menschen mit Beeinträchtigungen gesammelt und ausgewertet. Die Studie wurde im Auftrag der Aktion Mensch und den Medienanstalten durch die Technische Universität Dortmund und das Hans-Bredow-Institut aus Hamburg durchgeführt und lässt Menschen zu Wort kommen, die mit einer Behinderung und / oder Mehrfachbehinderungen leben. Aktion Mensch hat die Studienergebnisse folgendermaßen zusammengefasst:
- Alle vier Gruppen nutzen das Fernsehen mindestens so stark wie die Gesamtbevölkerung. Kritisiert wird, dass es noch zu viele Barrieren gibt.
- 61 % der Gehörlosen sagen, dass es zu wenige Sendungen mit Untertiteln gibt.
- Menschen mit Sehbehinderung und Blinde wünschen sich mehr so genannte „Audiodeskriptionen“. Darin wird beschrieben, was gerade im Bild zu sehen ist.
- 86 Prozent der Gehörlosen und 48 Prozent der Blinden sagen, dass sie den Inhalten im Fernsehen „gelegentlich“ bis „sehr oft“ nicht folgen können.
- Viele der Befragten fordern eine bessere Übersicht dazu, welche Sendungen barrierefrei angeboten werden.
- Jeder sechste Mediennutzer mit motorischen Einschränkungen hat Schwierigkeiten mit der Bedienung von Fernsehgeräten. Größere Tasten auf den Fernbedienungen und mehr Zeit, um zweistellige Programm-Nummern einzugeben, wären hier von Vorteil.
- Das Internet nutzen Menschen mit Behinderung insgesamt seltener als die Gesamtbevölkerung. Das gilt vor allem für die Teilgruppe mit Lernschwierigkeiten.
Die hohen Nutzungszahlen im Bereich des Mediums Fernsehen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass mediale Angebote wie auch die benötigten technischen Endgeräte häufig nicht barrierefrei sind. Im Online-Magazin Grimme Lab (ebenfalls ein Projekt des Grimme-Instituts) finden Sie im Dossier „Plädoyer für die Vielfalt“ die Beiträge „Mediale Teilhabe – inklusiv““ sowie „Aktion Mensch – Barrieren in den Medien“.
Im Bereich der Unterhaltung wird somit insbesondere das Medienformat Fernsehen mindestens genauso stark genutzt wie vom Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. In Filmen und Serien kommen Menschen mit Behinderung jedoch nur selten vor – zumindest abseits des Themas Behinderung. Die Reduzierung auf Barrieren und Schwierigkeiten sorgt zusätzlich für ein verzerrtes Bild und erschwert das gegenseitige Kennenlernen in alltäglichen Situationen. Dies führt wiederum zu Unsicherheiten im Umgang miteinander und verhindert einen selbstverständlichen Umgang.
Gemeinsam mit dem Büro der/des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen hat die Grimme-Akademie die Fachtagung „Inklusion und Medien“ ins Leben gerufen. 2013 fand diese zur „Darstellung von Menschen mit Behinderung in Medien“ und 2015 unter dem Thema „Inklusion im Fernsehen – Neue Perspektiven auf Behinderung“ statt.
Die Grimme-Akademie hat uns zur Fachtagung „Inklusion und Medien“ ein Interview gegeben.
Die Veranstaltung „Inklusion im Fernsehen – Neue Perspektiven auf Behinderun“ war eingebettet in das Kinderfilmfest „Goldener Spatz“ in Erfurt. Zusammen mit Expert(inn)en, Journalist(inn)en und dem Fachpublikum wurde über die Darstellung und Repräsentanz von Menschen mit Behinderung mit besonderem Augenmerk auf Kinder- und Jugendmedien diskutiert. Kooperationspartner waren „die medienanstalten“ und Sozialhelden e.V. Die Dokumentation der Veranstaltung per Twitter spiegelt sehr eindrücklich, wo häufig das Problem liegt: „Sprecht nicht über Menschen mit Behinderung, sondern mit Menschen mit Behinderung.“
UN-Behindertenrechtskonvention
Artikel 8 – Bewusstseinsbildung (1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um
- in der gesamten Gesellschaft, einschließlich auf der Ebene der Familien, das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern;
- Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, einschließlich aufgrund des Geschlechts oder des Alters, in allen Lebensbereichen zu bekämpfen;
- das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen zu fördern.
(2) Zu den diesbezüglichen Maßnahmen gehören
- die Einleitung und dauerhafte Durchführung wirksamer Kampagnen zur Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit mit dem Ziel,
- die Aufgeschlossenheit gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderungen zu erhöhen,
- eine positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber zu fördern,
iii. die Anerkennung der Fertigkeiten, Verdienste und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen und ihres Beitrags zur Arbeitswelt und zum Arbeitsmarkt zu fördern;
- die Förderung einer respektvollen Einstellung gegenüber den Recht en von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems, auch bei allen Kindern von früher Kindheit an;
- die Aufforderung an alle Medienorgane, Menschen mit Behinderungen in einer dem Zweck dieses Übereinkommens entsprechenden Weise darzustellen;
- die Förderung von Schulungsprogrammen zur Schärfung des Bewusstseins für Menschen mit Behinderungen und für deren Rechte.
(Artikel 8 der UN-Behindertenrechtskonvention,
Quelle: https://www.behindertenrechtskonvention.info/bewusstseinsbildung-3786/)
Behinderung in den Medien
Sophie findet ihren Weg – Leben mit Down-Syndrom
Landesschau Baden-Württemberg, 2015
Das Bild von Menschen mit Behinderungen in den Medien ist geprägt von Hilfsbedürftigkeit, Barrieren und Abhängigkeiten – keine schöne Vorstellung, wenn das eigene Leben eine solche Abbildung im On- und Offline-Bereich findet. Gleichzeitig ist überall von Inklusion die Rede, die für eine umfassende Teilhabe an Bildung, Arbeit und Alltag ermöglichen soll. In Filmen und Serien kommen Menschen mit Behinderungen nur sehr selten vor. Gleiches gilt etwa für Umfragen in Nachrichtensendungen, die Passanten zu verschiedenen Themen in alltäglichen Situationen zu Wort kommen lassen: Wenn Menschen mit Behinderung befragt werden, dann zum Thema Behinderung. Und Formulierungen wie „leidet unter“, „ist gefesselt an den Rollstuhl“, „meistert trotz ihrer Behinderung ihren Alltag“ werden häufig genutzt.
„Dass Inklusion in der Praxis noch nicht angekommen ist, wird mir schon bewusst, wenn ich das Haus verlasse. Bewege ich mich auf den Straßen, kommt es mir vor, als ob ich mich auf einer Bühne befinden würde. Leute gucken mich an, immer ein paar Sekunden länger, bleiben stehen, drehen sich nach mir rum. Das kann natürlich auch daran liegen, dass ich unglaublich gut aussehe, aber wenn diese Leute dann plötzlich mit dem Finger auf mich zeigen, mich ungefragt anfassen und mir anerkennend sagen: ‚Mensch toll, dass Sie auch rausgehen!‘, weiß ich, dass ich gerade einzig und allein wegen meiner Behinderung sehr viel Aufmerksamkeit bekommen habe. Und es zeigt mir, dass die Begegnung mit behinderten Menschen für die meisten eben keine Normalität ist.““
Edition F, „Ich leide nicht, weil ich im Rollstuhl sitze – ich lebe ganz einfach damit!“, Laura Gehlhaar
Laura Gehlhaar – Autorin, Bloggerin und Coach – schreibt in ihrem Blog über das Großstadtleben und das Rollstuhlfahren. Auf der Grundlage ihre Erfahrungen entstand das „Rollstuhlfahrer Bullshit-Bingo“, das missglückte Äußerungen – ob nun aufgrund von Vorurteilen und / oder aus der Unsicherheit heraus entstanden – aufgreift und klar macht, dass ein unverkrampfter und auf Augenhöhe stattfindender Austausch behinderter und nicht-behinderter Menschen häufig nicht möglich ist. Mit Humor, aber auch mit deutlichen Worten macht sie klar, dass im Gespräch häufig völlig inakzeptable und beleidigende Äußerungen getätigt werden, ohne dass es dem Verursacher/der Verursacherin überhaupt auffällt.
Das Projekt „Leidmedien“ des Sozialhelden e.V. in Kooperation mit der Aktion Mensch hat sich unter anderem mit der Darstellung von Menschen mit Behinderung in den Medien befasst und dabei gelungene und weniger gelungene Beispiele rausgesucht. Deutlich wird hier, dass das Gelingen eines medialen Formats entscheidend davon abhängt, die Augenhöhe zu wahren, Menschen mit Behinderung bereits bei der Konzeption mit ins Boot zu holen und die Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens zu befördern. Die Website des Projektes „Leidmedien“ bietet übrigens einen interessanten „Jahresrückblick 2017 – Behinderung in den Medien“ und ganz aktuell eine kritische Betrachtung des im März 2018 mit dem Oscar ausgzeichneten Film „Shape of water“.
Der Fachausschuss „Kommunikation und Medien“ der Staatlichen Koordinierungsstelle hat im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung die Publikation „Auf Augenhöhe – Leitfaden zur Darstellung von Menschen mit Behinderung für Medienschaffende (PDF/851 KB) erarbeitet. Der Leitfaden steht als kostenlosen Download zur Verfügung auf der Website der Behindertenbeauftragten zur Verfügung.
Mediale Inklusion im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
Das Medium Fernsehen hat in allen Gesellschaftsgruppen einen festen Platz beim Medienkonsum. Im Folgenden findet sich ein kleiner Exkurs zu den inklusiven Angeboten der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland.
Rechte aus UN-Konvention/Behindertengleichstellungsgesetz in Bezug auf Teilhabe am öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie Internetangeboten von Staat/Parteien
Deutscher Bundestag 2009
Die ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland) hat sich freiwillige Selbstverpflichtungen auferlegt, nach denen sie Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen ihre Programmangebote basierend auf dem UN-Konvention/Behindertengleichstellungsgesetz zur Verfügung stellt. Mitglieder der ARD sind alle neun Landesrundfunkanstalten: Bayerischer Rundfunk (BR), Hessischer Rundfunk (HR), Mitteldeutscher Rundfunk (MDR), Norddeutscher Rundfunk (NDR), Rundfunk Bremen (RB), Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), Südwestrundfunk (SWR), Saarländischer Rundfunk (SR) und Westdeutscher Rundfunk (WDR) sowie die Anstalt des Bundesrechts Deutsche Welle (DW).
Inklusion beim Medium Fernsehen hat zwei große Bereiche: Technik und Inhalt. Die ARD bietet in ihrem Fernsehprogramm zahlreiche barrierefreie Angebote, sprich Sendeformate mit Untertiteln, in Hörfilmfassung und mit Gebärdendolmetscher. Bereits 95 Prozent der Angebote werden mit Untertiteln angeboten. Auf der Sender-Website finden Interessierte zudem Nutzungsinformationen zum barrierefreien Angebot. Dort findet sich auch die Mediathek.
Der barrierefreie Zugang ist jedoch nur ein Aspekt der Gleichbehandlung und Vielfalt im Fernsehen. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Fernsehproduktionen. Das Thema Behinderung wird in unterschiedlichen Formaten der ARD aufgegriffen:
- Radiobeitrag „Schwer behindert“ – Ein Feature über hoch qualifizierte Menschen
- Sendereihe Weltspiegel, Beitrag „Kenia: Gemeinsam sind sie stark“
- plusminus, Beitrag „Kampf um Prothesen“
- ttt titel Thesen Temperamente, Beitrag „Das Universum und wir“
- Fernsehfilm „Jürgen – heute wird gelebt“
- Format „Selbstbestimmt“
Und auch beim WDR können Blinde und Sehbehinderte das Fernsehprogramm nutzen. Neben der Untertitelung für Hörgeschädigte bietet der WDR auch Hörfilm-Fassungen in seinem barrierefreien Angebot an. Dabei werden in den Sprecher- bzw. Dialogpausen der Sendungen mit Audiodeskription Schauplätze und Personen sowie deren Mimik und Gestik genau beschrieben. Der akustische Kommentar ist vergleichbar mit einem Hörspiel und bietet den Blinden und Sehbehinderten ein besseres Verständnis der gezeigten Handlung, Szenen und Bilder. Über viele Jahre hat der WDR etwa 15.000 Sendeminuten jährlich für WDR Fernsehen und Das Erste untertitelt sowie seit 2006 pro Jahr 12 Tatorte jährlich audiodeskribiert (=1.080 Minuten). Heute untertitelt der WDR pro Jahr rund 200.000 Sendeminuten und ca. 5.040 Minuten werden audiodeskribiert.
Was denken Menschen mit Down-Syndrom über das Down-Syndrom? | Quarks & Co | WDR
Der WDR hat in seiner Reihe Quarks & Co Menschen mit Downsyndrom zu Wort kommen lassen, die aus eigenen Erfahrungen sprechen können. Eins der Ergebnisse: Die Art und Schwere der Einschränkungen differieren und können (un)sichtbar für die Umgebung sein. Entsprechend ist auch der Bedarf an Unterstützung, um ein möglichst unabhängiges Leben führen zu können sehr unterschiedlich. Zuhören und Hinsehen sind Grundvoraussetzungen, um zu erfahren, wo äußere Barrieren vorhanden sind und was getan werden muss, um diese zu beseitigen.
PussyTerrorTV: Veronika Rodcke
Ein prominentes Beispiel für einen humorvollen Umgang mit den Defiziten, die Menschen ohne Behinderung im Umgang mit Menschen mit Behinderung an den Tag legen können, zeigt PussyTerrorTV des WDR mit seiner Kunstfigur Veronika Rodcke. Die Figur des Rollstuhlfahrers wird von dem Komiker Martin Fromme gespielt, der selbst eine körperliche Behinderung hat, jedoch nicht im Rollstuhl sitzt. Fromme hat unter anderem auch für die Aktion Mensch im YouTube-Channel Frommedy zahlreiche Videos unter dem Motto „Humor ist das wohl beste Mittel gegen Berührungsängste. Deswegen nimmt Komiker Martin Fromme Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung aufs Korn – mit versteckter Kamera und einer Prise schwarzem Humor“ gedreht und online gestellt.
Der MDR porträtierte in seinem Format „mdr um 12“ den Cartoonisten Philip Hubbe, der in seiner kreativen Arbeit das Thema Behinderung zeichnerisch umsetzt. Das Interview greift die Frage auf, ob man das Thema Behinderungen mit dem Genre Humor verknüpfen darf.
Die Doku-Reihe STOLPERSTEIN des BR stellt Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Handicaps vor, erzählt ihre Geschichte und begleitet sie in ihrem Alltag. STOLPERSTEIN will in erster Linie Mut machen und zeigt Beispiele gelingender Inklusion – setzt aber, wenn nötig, auch kritische Akzente.
hessenschau HR, 10.11.2016
Der HR berichtete beispielsweise im Format „hessenschau“ über die Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen für ein selbst bestimmtes Leben – genau dies soll mit dem Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderung erreicht werden. Im Jahr 2017 ist die erste Stufe des Bundesteilhabegesetzes in Kraft getreten. Doch Betroffene sehen erhebliche Mängel in der praktischen Umsetzung: Der Beitrag des HR beschreibt am Beispiel sehbehinderter Menschen die problematischen Änderungen, die mit einer Verschlechterung notwendiger Unterstützungsleistungen im Bildungsbereichen einhergehen. Weitere Reformstufen kommen in den folgenden Jahren bis 2023.
Raul Krauthausen über Barrieren im Alltag – ZDF heuteplus vom 15. März 2016
Das ZDF bietet seit April 2013 Hörgeschädigten zwischen 16.00 Uhr und 22.15 Uhr lückenlos Untertitel an. Und auch die Videos des YouTube-Kanals des ZDF sind auf Wunsch untertitelt. Audiodeskriptionen oder auch Hörfilm-Fassungen für Sehbehinderte und Blinde gibt es im ZDF-Hauptprogramm seit 1993. Die von PHOENIX übernommene Variante des „heute journal“ wird mit Gebärdenspracheinblendungen ausgestrahlt.
Hörfilme ermöglichen es blinden und sehbehinderten Menschen, Filme wahrzunehmen. Zu diesem Zweck werden sie mit einer Audiodeskription (AD) versehen, die zentrale Elemente der Handlung sowie Gestik, Mimik und Dekors schildert. Die Bildbeschreibungen werden in den Dialogpausen eingesprochen.
Im vergangenen Jahr gingen bei der Verleihung des Deutschen Hörfilmpreises 2017 drei Auszeichnungen an das ZDF. Ausgezeichnet wurden der Fernsehfilm „Familienfest“ (Redaktion: Caroline von Senden), die Folge „Geld – Der schlaue Tausch“ der Kinderwissensreihe „Löwenzahn“ (Redaktion: Margrit Lenssen) mit dem Sonderpreis der Jury und die ZDF-Kinokoproduktion „Nebel im August“ (Redaktion: Caroline von Senden). Der Deutsche Hörfilmpreis wird seit 2002 vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) verliehen und von der Aktion Mensch unterstützt.
Barrierefreiheit im Privatfernsehen
Auch im Bereich der Privatsender ist die technische Barrierefreiheit ein Thema. Die aktuelle Studie „Content-Bericht 2016 – Forschung, Fakten, Trends“ (PDF) der medienanstalten – ALM GbR gibt einen Einblick in die Bestrebungen hin zur Barrierefreiheit. Seit 2013 werden jährlich Monitorings zur Barrierefreiheit im Privatfernsehen durchgeführt, die drei Monate lang anhand eines Fragebogens erfassen, welche Anteile der Sendeminuten untertitelt wurden – zunächst beiden großen privaten Senderfamilien und seit 2016 auch bei kleineren Privatsendern.
Die Ergebnisse der nunmehr vierten Befragung sind ermutigend und belegen die beachtliche Steuerungswirkung des Monitorings: So haben beide Sendergruppen den Anteil an untertitelten Programmflächen seit 2013 erhöht. Dabei liegt die ProSiebenSat.1-Mediengruppe mit einem Anteil von 10 Prozent untertitelter Sendungen am Gesamtprogramm vor der RTL-Mediengruppe, die durchschnittlich 5 Prozent aller Sendungen mit speziellen Untertiteln für Gehörlose ausstrahlt. ProSieben bleibt dabei der Sender mit dem höchsten Anteil an Gehörlosenuntertiteln (2016: 22 Prozent).
Content-Bericht 2016 – Forschung, Fakten, Trends, Seite 173
medienanstalten – ALM GbR, 2016
Inklusion online
Online gibt es zahlreiche Initiativen, die an einem alltäglichen Bild von Menschen mit Behinderung arbeiten und besonders junge Menschen ansprechen möchten.
Die Aktion Mensch hat unter dem Motto „Wir lieben Filme! Aber was wäre, wenn Menschen mit Behinderung öfter mal die Hauptrolle spielen würden?“ Filmklassiker nachgespielt und auf ihrem YouTube-Channel einige Videos veröffentlicht, in denen – ganz selbstverständlich – Menschen mit Behinderung die Hauptrollen in Titanic, Rocky oder Dirty Dancing übernehmen.
Positive Rollenvorbilder in Form von filmischen Porträts bietet auch die Initiative „Die Andersmacher“ des Sozialhelden e.V. Sie will jungen Menschen mit Behinderung Mut machen, die eigene berufliche Zukunft zu planen, ohne von vornherein eine Schere im Kopf zu haben. In ihrer Reihe „Andersmacher“ stellt sie Menschen vor, die sich und ihren Alltag zeigen, die Rollenvorbilder sein können und gleichzeitig Menschen ohne Behinderung aufklären und teilhaben lassen.
Das Online-Magazin ROLLINGPLANET greift Themen und Meinungen zum Leben mit einer Behinderung auf und ermöglicht einen Einblick in das Leben von Menschen mit Behinderung sowie nicht zuletzt in das (häufig absurde) Verhalten von Menschen ohne Behinderung. Das Magazin ist ein nicht-kommerzielles Projekt, das im September 2011 von vier Rollstuhlfahrern aus München und Heidelberg initiiert wurde.
Arm per Gesetz – Felix trifft den Rollstuhlfahrer Constantin (5)
Im YouTube-Channel Felix trifft… wird auch das Thema Behinderung aufgegriffen. Einerseits werden alltägliche Situationen gezeigt, die einem Rollstuhlfahrer begegnen, andererseits versucht der Youtuber Felix selbst, durch die Nutzung eines Rollstuhls Barrieren erlebbar zu machen und die damit verbundenen Schwierigkeiten Menschen ohne Behinderungen näherzubringen.
Wie bereits erwähnt bietet die Datenbank „Gesellschaftsbilder“ geeignetes Bildmaterial für Beiträge von und über Menschen mit Behinderung. Initiiert wurde das Angebot von der Initiative Sozialhelden e.V. Ein weiteres Angebot der Sozialhelden ist das Projekt Leidmedien, welches in Kooperation mit der Aktion Mensch umgesetzt wird. Zielsetzung ist die Aufklärung und Unterstützung von Journalistinnen und Journalisten bezüglich der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung.
Fazit
Behindert ist man nicht, behindert wird man – von Gesetzen und von Treppen, von Sprache, von Gewohnheiten und von Unwissenheit.
TAZ Schwerpunkt „Leben mit Behinderung“
Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Lernschwierigkeiten, Sinnesbeeinträchtigungen und / oder chronischen Erkrankungen finden in den Medien statt und gestalten on- und offline mit. Jedoch ist die Medienlandschaft in Deutschland recht weit davon entfernt, Formate zu bieten, die gleichberechtigt und alltäglich das Thema aufgreifen und Menschen mit Behinderungen zu Wort kommen lassen. Der vorliegende IM BLICKPUNKT gibt selbstverständlich nur einen kleinen Einblick in die Medienlandschaft. Es gibt zahlreiche weitere Formate und Initiativen, die hier nicht abgebildet werden. Wünschenswert ist eine Weiterführung gelungener Projekte und eine weitere Öffnung der (medialen) Gesellschaft für eine große Gesellschaftsgruppe.
Die Erstellung dieses Beitrags wurde vom Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien des Landes Nordrhein-Westfalen und Chef der Staatskanzlei gefördert.
Text: Julia Wilms • Redaktion: Annette Schneider
Bildredaktion: Georg Jorczyk • Redaktionsschluss: Februar 2018
Grimme-Institut
Gesellschaft für Medien, Bildung und Kultur mbH
Eduard-Weitsch-Weg 25 • D-45768 Marl
Tel: +49 (0) 2365 9189-0 • Fax: +49 (0) 2365 9189-89
E-Mail: info@grimme-institut.de
Internet: www.grimme-institut.de
Die Bebilderung dieser Publikation wurde mithilfe der Fotodatenbank Gesellschaftsbilder.de umgesetzt, die Bildmaterial für Redaktionen, Medienmacherinnen und Blogger bietet, die für ihre Arbeit Bilder fernab von Klischees suchen. Die Fotos können für die redaktionelle Arbeit unter Verweis auf den Urheber kostenfrei genutzt werden. Hinter Gesellschaftsbilder.de steht der Berliner Verein SOZIALHELDEN.